Das Mädchen steht im Badezimmer und betrachtet seine frisch geputzten Zähne im Spiegel. Die Mama ruft: „Beeil Dich, Emilia, wir kommen sonst zu spät!“. Schnell dreht Emilia das Wasser zu und eilt die Treppe hinunter.

Sie kann nicht mehr sehen, dass ein ein kleines Wassertröpfchen, nennen wir es einfach Aquali, aus dem Auslauf der Mischbatterie, manche sagen auch Wasserhahn dazu, vorsichtig herausschaut. Dann kommt es immer weiter hervor, es wird immer größer und schwerer, bis es schließlich herunter fällt und in das Waschbecken platscht. Das weiße Porzellan ist blitzeblank, Aquali kann sich nirgends festhalten und rutscht deshalb geradewegs in den Abfluss.

Dort ist es gar nicht schön – nicht so hell und sauber wie im Waschbecken. Im Dunklen spürt Aquali noch viele andere Wassertropfen und schmierigen Schmutz. Zum Glück schwimmen auch Seifenreste im so genannten Geruchsverschluss oder Siphon, da kann es sich wenigstens etwas sauber machen.

Nach langer Zeit, Aquali hat sich gerade überlegt, wie es sich hier etwas gemütlicher machen könnte, kommt Emilia zurück ins Badezimmer und wäscht sich gründlich die Hände. Ganz viel Seifenwasser stürzt in den Abfluss, der Siphon wird voll und das viele schmutzige Wasser fließt durch eine Öffnung in eine Rohrleitung in der Wand. Wiederum kann sich Aquali nirgendwo festhalten, es schwimmt und fällt mit den anderen Tropfen durch die Abwasserleitung. Diese Rohrleitung führt durch das ganze Haus, geradewegs steil nach unten in den Keller und dann aus dem Haus hinaus.

Tief in der Erde wird die Rohrleitung immer dicker und es münden ab und zu neue Rohre in sie. Vor allem aber hat sie ein gleichmäßiges Gefälle – durch eine sanfte Neigung fließt das Abwasser langsam immer weiter abwärts. Aquali wird ungeduldig – immerzu im schmutzigen Wasser und im Dunklen zu schwimmen macht einfach keinen Spaß. Für ein wenig Abwechslung sorgen nur die Kurven und Bögen.

Plötzlich wird es laut im Rohr und alles fließt schneller. Ehe es sich Aquali versieht gerät es in eine Pumpe. Diese wirbelt es mit all dem anderen Abwasser ordentlich durcheinander und umeinander. Schließlich wird alles in ein Rohr gedrückt und steil nach oben befördert. Dort angekommen muss Aquali allerdings nur die langweilige Schwimm-Reise durch finstere Rohre fortsetzen.

Nach endlos langem eintönigen Schwimmen schimmert vorn im Rohr ein heller Schein. Aquali freut sich schon auf eine schöne Abwechslung und wird nicht enttäuscht. In hohem Bogen fliegt das schmutzige Wasser aus dem engen Rohr und platscht mit Getöse auf das Wasser in einem großen runden Becken, so groß wie ein Freibad. Welch eine Freude – nach so langer Zeit in finsteren Rohren nun endlich unter freiem Himmel schwimmen können. Sogar die Sonne scheint gerade auf dieses so genannte Absetzbecken.

Das Wasser fließt jetzt gar nicht mehr, also fast nicht mehr. Aquali schwimmt ganz oben auf der Wasseroberfläche und genießt die Sonne. Da merkt es gar nicht, dass um es herum immer mehr saubere Wassertropfen schwimmen. Der ganze Schmutz, der noch im Abwasser war, ist langsam auf den Boden des Beckens gesunken. Wenn sich dort zu viel davon angesammelt hat, wird es herausgebracht und als guter Dünger auf die Felder geschafft.

Nach einigen langsamen Runden kommt Aquali am nächsten Tag zu einer Öffnung am Beckenrand und verlässt mit ganz viel sauberem Wasser das Becken in einem engen Kanal. Es schwimmt schnell aber nicht lange. Mit Getöse ergießt sich das gesäuberte ehemalige Abwasser in einen kleinen Fluss, der gemächlich an den Becken der Kläranlage vorbei fließt.

Das ist ja nun eine aufregende Reise geworden. In dem Flüsschen wachsen nicht nur allerlei Pflanzen, die Sträucher und Bäume am Ufer recken ihre Wurzeln bis ins Wasser. In der Mitte liegen große Steine, um die das Wasser mit lustigen Wellen herum strömt, weil es sie nicht forttragen kann. Und auch allerlei Tiere fühlen sich sehr wohl im Fluss. Hinter einem Stein lugt ein kleiner Krebs hervor, am Grund befinden sich Schnecken und Würmer. Vor allem aber flitzen Fische flussaufwärts. Da landet mit lautem Zischen und vielen Spritzern eine Ente auf dem Wasser. Nach der nächsten Biegung, das Flüsschen wird wird immer breiter und tiefer, toben Kinder und treiben ihre Späße am und im Wasser. Einige paddeln mit einem kleinen Boot oder Kanu. Dabei müssen sie aufpassen und sich anstrengen, damit sie nicht von der Strömung abgetrieben werden. Aquali gefällt das sehr gut. Aber es kann nicht anhalten, der Fluss trägt es rasch weiter.

Bald schon verändert sich alles: der kleine Fluss ergießt sich in einen breiten und sein Wasser mischt sich gleich mit dem des schnell dahin fließenden des breiten Stroms. Aquali kann noch gar nicht alles Neue erkunden, da wird es schon herumgeschleudert. Auf dem mächtigen Fluss verkehren richtige Schiffe, Frachtkähne voller Sand oder Schrott und Ausflugsdampfer mit fröhlichen Leuten an Bord. Im Wirbel, den die Schiffsschraube eines Frachtkahns verursachte, ist Aquali ganz schwindlig geworden.

Dann genießt das Wassertröpfchen die abwechslungsreiche Reise im breiten tiefen Fluss, in dem sich natürlich viele Fische tummeln und auf dem viele Vögel schwimmen. Die Wassermassen des Stroms fließen nicht nur durch weite Ebenen, auch große Städte werden durchquert. Einige Tage später kündigt sich eine weitere Veränderung an: der Fluss mündet ins Meer.

Bisher bewegte die kräftige Strömung des Flusses die Wassertröpfchen, nun ist es die Brandung, mit der das Meer das Wasser in Wellen an das Ufer wirft. Aquali wird mit den anderen unendlich vielen Wassertröpfchen sanft auf das offene Meer hinaus getragen. Bald bemerkt es: etwas will es in die Tiefe ziehen. Ein paar Salzkristalle, die munter zwischen den Wassertropfen herumtollen, haben sich an Aquali gehängt. Auch den anderen ergeht es so. Deshalb schmeckt das Wasser im Meer salzig.

Unserem Tröpfchen gefällt das aber nicht. Es versucht grimmig, das Salz abzuschütteln und wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen. Dort herrscht zwar heftiger Wellengang und ein kräftiger Wind weht. Allerdings scheint auch die Sonne heiß. Da wird es Aquali ganz warm. Das Tröpfchen dehnt sich aus, bis es ohne das schwere Salz leichter als Luft wird und nach oben steigt. Man sagt dazu auch: das Wasser verdunstet wenn das mit ganz vielen Tropfen geschieht.

Über dem Meer weht immerzu ein Wind oder gar ein Sturm. Der Wind bläst die vielen leichten Wassertröpfchen zu großen Wolken zusammen. Je nachdem aus welcher Richtung der Wind kommt, treibt er die Wolken weiter aufs Meer hinaus oder über das Festland. Die Wolke mit Aquali fliegt hoch über das Land, über Wiesen und Wälder, Städte und Dörfer. Am unteren Rand der Wolke hängend ist das alles deutlich zu sehen. Als der Wind die Wolke allerdings an ein Gebirge drückt, werden die Wassertröpfchen zusammengedrückt, immer kühler und schwerer und fallen schließlich herunter – es regnet auf der Erde.

Aquali landet nach kurzem Flug auf dem Blatt einer Sonnenblume, kann sich aber nicht festhalten und fällt weiter auf die Erde. Zwischen den Pflanzen wird es langsam eng, so viele Tropfen fallen im Regen herab. Aber die Erde ist weich und von vielen kleinen Löchern durchsetzt, die fleißige Regenwürmer gebohrt haben. In solch ein Loch wird Aquali geschwemmt. Ein großer Teil des Regenwassers verschwindet so in der Erde – es versickert. Da unten in der Erde ist es natürlich wieder dunkel, aber auch voller Leben. Würmer, Insekten und Käfer leben da, manchmal kommt auch ein Maulwurf vorbei. Außer den Gängen für die Tierchen und den Wurzeln der Pflanzen gibt es auch Wasserstraßen. Da fließen die mit dem Regen herabgefallenen ganz vielen Wassertröpfchen gemeinsam in die Tiefe. Manche werden allerdings von Wurzeln der kleinen und großen Pflanzen, der Bäume, Sträucher, Blumen und Gräser eingefangen.

Die anderen sinken, bis sie an eine Erdschicht kommen, die sich dem Wasser entgegenstellt und kein Tröpfchen weiter hinab lässt. So sammeln sie sich zum Grundwasser und fließen auf felsigem Grund oder einer wasserdichten Lehmschicht durch die Erde, mittendrin Aquali. Das nachfolgende Wasser drückt es immer weiter bis es plötzlich ans Tageslicht kommt. Es ist eine Quelle entstanden! Das glasklare Wasser fließt nun oberirdisch fröhlich plätschernd und murmelnd über Stock und Stein durch den Wald ins Tal hinab. Dort haben die Menschen einen Damm errichtet, vor dem sich all das Quellwasser, was von den Bergen kommt, zu einem großen Stausee sammelt.

Die Sonne spiegelt sich auf der Wasseroberfläche. Aquali schwimmt ein wenig hin und her. Vielleicht könnte man sich an der Oberfläche etwas sonnen, dann wie auf dem Meer verdunsten und als Wolke weiter über Land reisen. Um etwas neues zu entdecken, ist es aber interessanter, in die Tiefe zu tauchen. Das Wassertröpfchen sinkt immer tiefer im klaren kalten See. Noch ehe es den Grund erreicht hat, wird es ein großes rundes Loch in der Staumauer gesaugt. Wieder strömt es mit unendlich vielen Wassertropfen dicht gedrängt durch eine unterirdische Rohrleitung.

Nach ein paar Stunden wird die Strömung noch schneller und das Wasser wird von einer großen Pumpe angesaugt und durch einen großen Behälter voller Sand gedrückt. In diesem Apparat wird dann noch das letzte allerkleinste Schmutzteilchen herausgefiltert. Nach dem Filter geht weiter durch neue unterirdische Rohrleitungen aus glattem Kunststoff. Aquali langweilt sich ein bisschen – in diesem Gedränge und dann noch im Dunklen ist wirklich gar nichts zu erleben. Da ist es schon eine willkommene Abwechslung, als wieder eine Pumpe alles Wasser durcheinanderwirbelt und in einem Rohr steil nach oben drückt.

Für das Wassertröpfchen endet die Reise im dunklen Rohr, als es in einen großen Behälter platscht. Zum Glück hat dieser keinen Deckel und Aquali kann sehen, was ringsum los ist. Der Behälter ist oben in einem Wasserturm angebracht. In dem Behälter wird das Wasser gesammelt, was die Leute in der Stadt in einer bestimmten Zeit verbrauchen. Der Turm steht auf einem kleinen Hügel und damit höher als die höchsten Häuser der Stadt. Aber Aquali kann gar nicht lange die Aussicht genießen. Schon wieder gelangt es in ein Rohr und saust abwärts bis unter die Erde.

Von dem Rohr unter der Straße zweigen immer wieder kleinere Rohre ab. Aquali ist nicht nur neugierig, es will auch endlich raus aus der Finsternis und drängt sich in das nächste abzweigende Rohr. Nach kurzer Zeit gelangt es in den Keller eines Hauses. Die nachfolgenden Wassertröpfchen drücken es sogar hinauf bis in die Küche. Dort steht Emilia an der Spüle und wäscht sich einen Apfel mit dem frischen sauberen Wasser. Aquali versucht vergebens, sich am Auslauf der Mischbatterie festzuhalten. Mit vielen anderen Wassertröpfchen fließt es über den Apfel und Emilias kleine Hände. Zu guter Letzt fällt es in den Abfluss und eine neue Reise voller Abenteuer kann beginnen.

(geschrieben 2020 gegen die Pandemie-Langeweile)

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